Das Ziel des Bundesfachkongresses Interkultur war von Anfang an, bislang meist getrennt geführte Diskurse wie die der Kultur- und Bildungspolitik, Entwicklungs- und Integrationspolitik sowie des interreligiösen Dialogs zusammenzuführen und neue interkulturelle Politik- und Arbeitsansätze zu entwickeln. Dabei bezog sich der Kongress schon sehr früh auf die UNESCO-Konvention zur kulturellen Vielfalt. Sein Hauptaugenmerk richtet sich auf die kommunale Praxis und die Interkulturelle Öffnung der bestehenden Institutionen, Ämter und Träger der Jugend-, Bildungs-, Sozial- und Kulturarbeit.
Stuttgarter Impulse zur kulturellen Vielfalt
„Kulturelle Vielfalt – Differenzieren statt Pauschalisieren“ lautete das Motto des ersten Bundesfachkongresses Interkultur, veranstaltet vom Forum der Kulturen Stuttgart e.V. vom 4. bis 6.10.2006 im Stuttgarter Rathaus. Kulturelle Vielfalt stand dabei nicht nur auf dem Papier, sondern sie war sowohl in der Zusammensetzung der Referierenden als auch der Teilnehmenden des Kongresses gegeben. Die ca. 450 Teilnehmenden schufen in sieben Fachforen zum interkulturellen und interreligiösen Dialog die Grundlage für die „Stuttgarter Impulse zur kulturellen Vielfalt“. Ausgearbeitet und am 30.11.2006 abschließend verabschiedet wurde dieses Dokument vom Kongressbeirat, der Initiative „Bundesweiter Ratschlag Kulturelle Vielfalt – Interkultur – Zukunftsfähigkeit der Kommunen“.
Die Stuttgarter Impulse wollten politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern sowie Multiplikatorinnen und Multiplikatoren auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene einige Leitlinien und praktische Handlungsempfehlungen vorschlagen. Zugleich waren sie Grundlage für eine weiter vertiefende Diskussion mit dem Ziel der Erarbeitung praktischer Handlungskonzepte auf dem 2. Bundeskongress Interkultur in Nürnberg.
Impulse zur kulturellen Vielfalt von 2006
PRÄAMBEL
Nach langen Jahren oft unfruchtbarer Kontroversen über Einwanderung, Multikultur, Ausländergesetzgebung und Integration hat sich inzwischen ein weitgehender Konsens herausgebildet: Deutschland ist ein Zuwanderungsland und bedarf entsprechender politischer, gesetzlicher und gesellschaftlicher Maßnahmen. Während in Teilen der Bevölkerung die Neigung zu Rechtsextremismus und Rassismus besorgniserregend ansteigt, ist in der Öffentlichkeit und der Politik insgesamt eine wachsende Sensibilität für die Bedingungen eines friedlichen Miteinanders zu verzeichnen.
Dies stellt eine Chance dar, vorliegende Erkenntnisse in politisches Handeln und in die Schaffung tragfähiger Strukturen umzusetzen sowie wegweisende Ansätze und Projekte zu vernetzen, zu verstetigen und weiter-zu-qualifizieren. Im Sinne eines Intercultural Mainstreaming sollten die kulturelle Teilhabe und die Ausdrucksmöglichkeit aller in Deutschland lebenden Menschen zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe werden.
I. LEITLINIEN
Für den Zusammenhalt und die Zukunft unserer multiethnischen Gesellschaft wie auch für ein friedliches Miteinander in der globalisierten Welt sind Toleranz, gegenseitige Achtung und Anerkennung allgemeine Voraussetzungen. Daher ist der Erwerb interkultureller Kompetenz unverzichtbar.
Die aktive Wertschätzung kultureller Vielfalt und des interkulturellen Dialogs stellt eine Herausforderung an unsere Lernfähigkeit dar. Gefordert ist eine Politik, die kulturelle Vielfalt als gesellschaftliche Ressource und nicht als Bedrohung begreift und entsprechende Rahmenbedingungen schafft.
Kulturelle Vielfalt ist kein Ressortthema, sondern immanenter Bestandteil von Kultur und damit eine Querschnittsaufgabe. Daher gilt es, bisher getrennte Diskurs- und Handlungsfelder zusammenzuführen. Wir brauchen disziplin- und ressortübergreifende Zuständigkeiten und Kooperationen insbesondere in den Bereichen Bildung, Jugend, Kultur, Soziales, im interreligiösen Dialog und in der Entwicklungszusammenarbeit.
Kulturelle Hierarchisierungen im Sinne eines eurozentristischen bzw. abgrenzenden Leitbildes sind unfruchtbar. Selbstverständlich müssen sich Gesellschaften auf einen gemeinsamen rechtlichen und politischen Rahmen einigen. Der individuelle und gruppenbezogene Ausdruck kultureller Diversität und selbstbestimmter Differenz steht jedoch nicht im Widerspruch dazu.
Die auf nationaler Ebene – im Bund, in den Ländern, in den Kommunen – verankerte Politik und Praxis profitieren davon, wenn sie verstärkt in Übereinstimmung mit internationalen Abkommen wie der „Agenda 21“, den „Millennium Development Goals“ oder dem „Übereinkommen über Schutz und Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen“ agieren und diese Abkommen in konkrete Aktionsprogramme überführen.
II. HANDLUNGSEMPFEHLUNGEN
Kulturelle Vielfalt in allen Konzepten der Kulturpolitik verankern.
In dem Maße wie der an aktuellen Daten zur Bevölkerungsentwicklung orientierte Aspekt Interkultur in die konzeptionellen Grundlagen der Kulturpolitik – in Kulturleitlinien des Bundes, in die Kulturentwicklungspläne der Länder und Kommunen etc. – einbezogen ist, wird erkennbar, dass kulturelle Vielfalt kein Nischenthema, sondern ein immanenter Bestandteil von Kultur ist.
Kulturelle Vielfalt in allen Bereichen medialer Öffentlichkeit zur Geltung bringen.
Die Medien sind unverzichtbar für Verständigungs-, Lern- und Orientierungsprozesse einer offenen demokratischen Gesellschaft. Das Themenfeld ist anspruchsvoll und gegenüber populistischer Stimmungsmache gefährdet. In Erfüllung ihrer demokratischen Verantwortung sind die Medien verpflichtet, entsprechende fachliche und journalistische Kompetenz zu entwickeln und die gesellschaftliche Veränderung durch interkulturelle Öffnung ihrer Institutionen und direkte Beteiligung von Migranten und Migrantinnen an den Produktionen in der medialen Öffentlichkeit realitätsgerecht abzubilden.
Kommunale Ansätze mit internationalen Abkommen verbinden.
Wenn es zum Beispiel gelingt, das 2005 von der UNESCO verabschiedete „Übereinkommen über Schutz und Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen“ durch einen nationalen Aktionsplan, der Strukturen und Ressourcen bereitstellt, mit Leben zu füllen, kann diese „Magna Charta der Internationalen Kulturpolitik“ hierzulande eine hohe politische Dynamik entfalten. Denn das Übereinkommen, das Vielfalt als Zukunftsressource verhandelt und letztendlich die „Spielregeln“ der Globalisierung neu definiert, liefert einen so nie da gewesenen Bezugsrahmen, um kommunale Ansätze mit internationalen Abkommen zu verbinden.
Internationalität als Standortfaktor ausbauen.
Kommunen, die es versäumen, sich mit Internationalität und Interkulturalität auseinanderzusetzen, verlieren an Bindekraft. Gefragt ist heute Weltoffenheit nicht mehr nur nach außen, sondern nach innen – in Nachbarschaften, die man sich oft nicht aussuchen kann. Hier zu einem Klima des Respekts und der Anerkennung beizutragen, gemeinsam nach zukunftsfähigen Lebensformen zu suchen, ist eine lohnende Herausforderung und stärkt die Innovationsfähigkeit einer Kommune – gerade in Krisenzeiten!
In allen Kultureinrichtungen, Programmen und Förderverfahren kulturelle Vielfalt berücksichtigen.
Alle Kultureinrichtungen sollten in ihren Programmen, ihrem Publikum und bei ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen die kulturelle Vielfalt der Gesellschaft widerspiegeln. Je mehr sich auch etablierte Kultureinrichtungen, wie Konzert- und Theaterhäuser, Museen und Bibliotheken, diesbezüglich öffnen, desto attraktiver werden sie, insbesondere für junges Publikum! Bei den Entscheidungen über die Vergabe öffentlicher Fördermittel können interkulturell besetzte Jurys zu mehr Sensibilität für kulturelle Vielfalt führen. Wo Förderprogramme entwickelt oder überarbeitet werden, ist es ratsam, gerade im Blick auf Interkultur verstärkt die jeweils spezifischen Verhältnisse vor Ort – Stadt/Land, hoher oder niedriger Migranten- und Migrantinnen-Anteil – zu berücksichtigen. Auch ist die Bildung neuer, teilweise hybrider kultureller Ausdrucksformen zu würdigen und zu fördern, denn Kulturen – und damit auch Herkunftskulturen – sind nicht statisch. Generell sollte die Förderung interkultureller Kulturarbeit nicht beim Integrationsbeauftragten oder ähnlichen Stellen, sondern im Kulturbereich angesiedelt sein. Und in allen Förderentscheidungen braucht es ein Höchstmaß an Transparenz.
Projektarbeit verstetigen.
Um wegweisende Praktiken zu verstetigen, kommt es darauf an, neben Projekte verstärkt Prozesse mit den notwendigen Ressourcen zu unterstützen. Das erfordert neue Förderformen und neue Kooperationsformen, auch mit neuen Partnern – einschließlich der Wirtschaft und ihren Verbänden. Die Parole: Quer denken, quer handeln, quer fördern.
Die Migranten und Migrantinnen als Brückenbauer zwischen Ländern und Kulturen verstehen.
Die Diasporagruppen in der Bundesrepublik Deutschland und ihre zivilgesellschaftlichen Organisationen verfügen über ein Expertenwissen, das systematisch für die Optimierung der Entwicklungszusammenarbeit nutzbar gemacht werden kann. Die Stärkung der Diasporagruppen sowie ihre politische, kulturelle und ökonomische Partizipation und Integration in Deutschland sind die beste Voraussetzung dafür, dass ideelle und materielle Transferleistungen zur nachhaltigen Entwicklung der Heimatländer beitragen können. Derlei private Transferleistungen sollen nicht doppelt besteuert werden.
Die Herkunftssprachen von Migranten und Migrantinnen wertschätzen.
Die Sprachen von Migranten und Migrantinnen sind keine Defizite, sondern gesellschaftliche und ökonomische Ressourcen! Eine solche Wertschätzung bedeutet, vom Kindergarten an neben dem Erwerb der deutschen Sprache Mehrsprachigkeit zu pflegen und die Sprachen von Migranten und Migrantinnen wie Englisch, Französisch oder andere Weltsprachen zu behandeln. Der muttersprachliche Unterricht soll von hier ausgebildeten Lehrkräften erteilt werden.
Intercultural Mainstreaming im Bildungswesen verwirklichen.
Das beinhaltet zu allererst, in sämtlichen Lehrplänen – beginnend mit der Grundschule über die Berufsbildung bis zur Universität – den Erwerb von interkultureller Kompetenz, von Wissen über Kulturen sowie über Kultur als dynamischen Prozess zu integrieren. Hierzu ist es unverzichtbar, Personen mit Migrationshintergrund in die Lehrplanentwicklung einzubeziehen. Auch sollte das pädagogische Personal in den Bildungseinrichtungen selbst die demografische Entwicklung durch Zuwanderung widerspiegeln. Dazu gehören auch die interreligiöse Neustrukturierung der Lehrerausbildung und die Einrichtung islamischer Lehrstühle. Und schließlich: Es ist an der Zeit, die Zusammenarbeit mit den Eltern jenseits reiner Elterninitiativen im Regelsystem zu verankern und die Lehrkräfte dafür zu schulen. Wo Migranten und Migrantinnen und ihre Organisationen aktiv an der Konzeption und Umsetzung von Elternarbeit beteiligt sind, fördert das die Identifikation mit dem gesamten eigenen Lebensumfeld.
Schulen in die Kommunen hinein vernetzen.
Eine offene, unbürokratische Zusammenarbeit zwischen Schulen, Jugendämtern, Altenheimen, kommunalen Einrichtungen, Religionsgemeinden etc. unterstützt die gegenseitige Integration und trägt dazu bei, dass die gesamte Kommune sich als eine Lerngemeinschaft begreift.
Die Chancengleichheit in der Jugendarbeit verbessern.
Die interkulturelle Öffnung der Jugendarbeit ist eine Querschnittsaufgabe auf sämtlichen Ebenen. Sie muss aus zwei Dimensionen bestehen: der interkulturellen Öffnung von Strukturen und Angeboten der Jugendarbeit und dem Empowerment von Migranten-/Migrantinnen- Jugendorganisationen. Dabei darf dieses Empowerment nicht defizitorientiert sein und gesellschaftliche Vorurteile reproduzieren, sondern es muss Freiräume für Identitätsbildung und Partizipation schaffen. Unverzichtbar sind hier ein verbesserter Zugang von Migranten-/Migrantinnen-Organisationen zu Förderinstanzen und eine verstärkte Präsenz von Migranten und Migrantinnen als stimmberechtigte Vertreter und Vertreterinnen in sämtlichen politischen Gremien, auch in Führungspositionen.
Die aktive Teilhabe von Frauen am interkulturellen und interreligiösen Dialog stärken.
Das Verhältnis der Geschlechter zueinander ist fraglos kulturell determiniert und die Dominanz der Männer in allen Gesellschaften nachgewiesen. Das gilt auch dort, wo die Gleichberechtigung von Mann und Frau rechtswirksam festgeschrieben ist. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau durchzusetzen ist eine der großen Herausforderungen im 21. Jahrhundert. Auf die Frage nach dem „Wie“ gibt es nicht eine Antwort; diese ist in vielfältigen Zusammenhängen zu suchen und praktisch zu gestalten. Änderungen brauchen den offenen Dialog, beruhend auf den Erfahrungen der Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Biografien. Wie auf internationaler Ebene ist auch in nationalen und lokalen Zusammenhängen die angemessene Repräsentanz von Frauen – nicht zuletzt von Theologinnen und Frauenverbänden der Religionsgruppen und -gemeinschaften – auf allen Ebenen des interkulturellen und interreligiösen Dialogs unverzichtbar. Die Erfahrung der Frauenbewegung hat weltweit gezeigt: Der verstärkte Einfluss von Frauen ist nicht nur für Frauen gut, es profitiert vor allem die Gesellschaft.
Den Dialog zwischen den Religionen weiterentwickeln und dabei Geltungsansprüche anderer Denk- und Glaubenssysteme einbeziehen.
Auch Kommunikationsformen sind kulturell beeinflusst. Insbesondere im Blick auf den interreligiösen Austausch kommt es daher heute darauf an, systematisch Methoden und Strategien für eine angemessene Dialogkultur zu entwickeln. Zu deren Merkmalen zählen horizontale Dialogformen – alle lernen voneinander –, die Inszenierung eines kontinuierlichen Austauschs auf kommunaler und Länderebene, etwa in Form Runder Tische, sowie die Verankerung des Dialogs auf möglichst breiter gesellschaftlicher Basis – mit der Verwaltung, den Verbänden, im Bildungsbereich und nicht zuletzt auch mit den Medien. Der Austausch zwischen den Religionen sowie der Diskurs mit jenen gesellschaftlichen Gruppen, die sich keiner Religionsgemeinschaft zugehörig fühlen, muss im Sinne eines pluralistischen und demokratischen Gemeinwesens intensiviert werden. Geltungsansprüche unterschiedlicher Denk- und Glaubenssysteme bedürfen eines kontinuierlichen Diskurses mit dem Ziel gegenseitiger Anerkennung.